Sebastian 23: Cogito, ergo dumm - Eine Geschichte der Dummheit
Eventuell kennst Du die Mütze Sebastian 23 ja noch aus seiner Zeit als fabelhaften Moderator vom Slam Poetry im Café Atlantik in Freiburg? Jedenfalls hat der Bochumer Sebastian Rabsahl, "der Großmeister der subtilen Komik, wieder einmal seinen unnachahmlichen Witz und scharfen Verstand zu einem Buch voller Charme und Denkanstöße vereint" - Zitat Michel Abdollahi Ende. Glauben wir ja blind! Auch wenn wir bisher nur die Bonusbuchstaben gelesen haben - diese und extra für Dich in kompletter Länge zur Buchkauf-Anfixe nachfolgend.
> Sebastian 23: Cogito, ergo dumm - Eine Geschichte der Dummheit / Benevento 2020 / 336 Seiten / ab 16 € / www.sebastian23.org
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Aus aktuellem Anlass hat Sebastian 23 das Extrakapitel "Dummheit in Zeiten der Corona" nachgeschoben. Bitteschööön:
Dies ist ein inoffizielles Zusatzkapitel zu meinem Buch Cogito, ergo dumm. Eine Geschichte der menschlichen Dummheit, das heute einen Monat alt wird. Na, herzlichen Glückwunsch. Um ein Buch über Dummheit zu veröffentlichen, war der 12. März 2020 ein wirklich dummes Datum. Die Corona-Krise schlug ab Mitte März weltweit mit einer Härte zu, die man vorher vielleicht befürchten konnte, deren Ausmaße aber kaum jemand erahnt hatte. Jetzt, einen Monat später, wissen wir sehr viel mehr – der Schreck sitzt tief, die Sorge ist groß und wir sind überwältigt vom Mitgefühl für die direkt und indirekt Betroffenen und ihre Verwandten. Wir haben gelernt, was »Systemrelevanz« bedeutet, warum »Social Distancing« das Gegenteil von anti-sozialem Verhalten ist und das wir auch nach Karneval die Masken aufbehalten sollten. Wir wissen nun, mehr als je zuvor: Ärzt*innen und Pflegekräfte leisten Unglaubliches, ebenso wie Mitarbeiter*innen in Supermärkten, und Virologen erreichen Popstar-Status.
Wobei: Was heißt schon »wir«? Haben wir etwa alle etwas dazugelernt? Sind wir durch den Schrecken der Krise klüger geworden? Oder zeigen sich inmitten des globalen Lockdowns völlig neue Formen der Idiotie? Baden die Deutschen aktuell in Hefe und Mehl?
Das sind gute Fragen, auf die ich in meinem Buch (noch) nicht eingehen konnte – es ist, wie gesagt, am 12. März 2020 erschienen. Und dieser Tag kommt mir mittlerweile vor, als läge er ein halbes Jahrhundert zurück. Dennoch möchte ich gerne ein Update anbieten, ein Bonuskapitel, in dem ich auf die aktuelle Entwicklung eingehe und spektakuläre Dummheiten bespreche. Zumal in Cogito, ergo dumm viele Themen schon angerissen werden, die jetzt an Relevanz gewonnen haben, etwa die »Erfindung« des Händewaschens durch Ignaz Semmelweiß, die schädigenden Auswirkungen sozialer Isolation oder die Probleme durch gezielte Desinformation und Verschwörungstheorien.
Keineswegs will ich damit die Krise verharmlosen oder lächerlich machen, im Gegenteil. Mir ist es wichtig, dass wir alle den Ernst der Lage begreifen, dass wir uns solidarisch zeigen, uns gegenseitig helfen, diese weltweite Krise gemeinsam durchstehen – und trotzdem unseren Humor dabei nicht komplett verlieren. Denn das wäre wirklich dumm.
In schwierigen und unübersichtlichen Zeiten florieren Verschwörungstheorien. Warum das so ist, habe ich im Kapitel »Aber: Glaube« ausführlich dargelegt: Verschwörungstheorien bieten einfache Lösungen, die oft anschaulicher sind und interessanter klingen als die komplexen und manchmal ernüchternden Realitäten des politischen Betriebs. Eine sachliche Abhandlung über den Einfluss von Lobbygruppen auf die Politik des EU-Parlaments liest sich auch für mich weniger prickelnd als die Geschichte der Entstehung einer geheimen Weltregierung aus getarnten Echsenmenschen, die entstanden sind, weil eine Kolonie von Space-Nazis im Inneren der Hohlerde auf Dinosauriern reiten. Muss man wissen.
Auch auf dem Misthaufen der Corona-Krise blühen die Blumen der Verschwörungstheorien. Eine so abwegige wie populäre Theorie betrifft die neue Mobilfunk-Technologie 5G, die in den Augen der Munkelnden schon letztes Jahr die RFID-Chips als größte technologische Bedrohung abgelöst hatte. Doch nun geistert die Behauptung durchs Internet, dass in Wuhan direkt vor dem Ausbruch der Krise die Technologie ans Netz gegangen sei. Selbst wenn das so gewesen wäre, verwechselt man durch die Behauptung, dadurch sei der Virus ausgelöst worden, Korrelation und Kausalität. Natürlich können zwei Sachen nacheinander passieren, ohne dass die eine Sache die andere verursacht haben muss. Wenn ich mir ein Fußballspiel anschaue und mich dabei am Kinn kratze, kann es passieren, dass eine Sekunde später meine Mannschaft ein Tor schießt. Wenn ich jedoch davon ausgehe, dass dieses Tor fiel, eben weil ich mich am Kinn gekratzt habe, dann ist das absurd – und die kommende Saison wird eine schwierige Zeit für meine untere Gesichtshälfte.
Nicht weniger bizarr mutet die Theorie eines Zusammenhangs zwischen 5G und Corona an. Dennoch ist die Geschichte weltweit so verbreitet und hat so viele Anhänger, dass in den letzten Wochen allein in Großbritannien 22 Funkmasten zerstört und angezündet wurden. Darunter einige, die nicht einmal 5G-Technik enthielten – was die Sache im Grunde nicht noch sonderbarer macht, aber trotzdem irgendwie unfair auf mich wirkt. Zudem berichtet der Guardian von zahlreichen Zwischenfällen, bei denen Techniker*innen, die mit dem Aufbau von Mobilfunkmasten befasst waren, von Passanten beleidigt und bedroht wurden. Wenn ich so was lese, juckt mir glatt das Kinn.
Etwas weiter unten traf die Krise offenbar die Redaktion der Zeitschrift Brigitte, die Anfang April 2020 einen Artikel über die wirklich dramatischen Probleme der Gegenwart verfasste – unter der Überschrift: »Hängebusen durch Homeoffice – Das raten Experten«. Der Fitness- Influencer Johannes Luckas aus Berlin sagte in einem Interview, er sei zu muskulös, um glaubwürdig zu Hause trainieren zu können. Das Problem kenne ich, wenn auch aus der umgekehrten Richtung.
Die Deutschen scheint die Krise an noch einem anderen Körperteil zu treffen. Während man in Italien Kondome hamstert, in Frankreich Rotwein und in Amsterdam Gras, war die erste Reaktion der Deutschen, sich Unmengen an Klopapier zu kaufen. Der Absatz stieg um 700 Prozent und Witze darüber haben jetzt schon einen Bart wie Mario. Dennoch begeistert mich ein Dialog, den ich auf Twitter (bei @DerAltePoet) las, bis heute. Ein älteres Ehepaar stand im Supermarkt vor dem beinah komplett leergefegten Klopapier-Regal. Der Mann wies seine Gattin darauf hin, dass ja noch eine Packung da sei, jedoch nur vom Recycling-Klopapier. Die Frau entgegnete, das könne man nicht nehmen, man wisse ja gar nicht, wer das wohl schon benutzt habe.
Es geht ein zauberhafter Schimmer von dem Gedanken aus, dass manche Leute offenbar glauben, Recycling-Klopapier entsteht, indem jemand mit einer Angel am Klärwerk steht, das gebrauchte Klopapier aus dem Abwasser fischt, einmal trocken abwischt, bügelt, es auf eine Rolle wickelt und zurück in den Supermarkt bringt. The circle of life. Magical.
Apropos Kreislauf, kennen Sie diese schwarzen schmalen Förderbänder, die als Haltegriff an einer Rolltreppe dienen? Sie wissen schon, was ich meine, diese fünfzig Meter lange Lakritzschnecke, die sich parallel zur Treppe bewegt? Wie heißt das? Ich weiß es nicht! Aber eine Sache weiß ich sicher – ich würde nicht daran lecken wollen, ganz besonders jetzt während der Corona-Krise. Andere Leute scheinen das aber ganz anders zu sehen. Etwa der ehemalige Rapper Felix Krull, der inzwischen eher dafür bekannt ist, tendenziell eklige Challenges auf Instagram zu machen. In einem seiner Videos ballert er sich zum Beispiel eine Dose Surströmming durch einen Schlauch in den Hals. Mein Tipp: Recherchieren Sie jetzt nicht, was Surströmming ist. Nun hat sich Felix Krull aber auch die »Corona Challenge« einfallen lassen – dazu leckt er nicht nur in einem Münchner U-Bahnhof an einem Rollband, sondern auch an Haltegriffen in der U-Bahn selbst und am Bildschirm eines Fahrkartenautomats. Dazu grinst er in die Kamera und murmelt mehrmals sein Mantra: „Na, logisch.“
Kurz nach Veröffentlichung des Videos wurde Krull festgenommen. Und nur weil sich in einem Test herausstellte, dass er keine Infektion hatte, wertete man die Aktion nicht als Körperverletzung und er durfte wieder gehen. Man muss ihm zugutehalten, dass er sich inzwischen für die Aktion entschuldigt hat. Dadurch konnte verhindert werden, dass wir nun alle seinem Vorbild folgen und am Inventar des ÖPNVs lutschen. Bei einem anderen Influencer namens Larz aus Kalifornien, der ebenfalls die berüchtigte »Corona-Challenge« gemacht hat, ging es nicht ganz so glimpflich aus. Woran er geleckt hat, traue ich mich gar nicht auszusprechen, vertrauen sie mir, es ist noch zehnmal ekliger als alle Krull-Aktionen zusammen. Wenige Tage später stellte sich heraus, dass Larz sich mit Covid19 infiziert hatte. Na, logisch.
Ich denke nicht, dass der britische Premierminister Boris Johnson dabei die »Corona Challenge« im Hinterkopf hatte, aber auch er sorgte für Aufsehen, als er Mitte März verkündete, er habe ein Krankenhaus voller Infizierter besucht und dort allen die Hand geschüttelt. Das gehöre sich halt so. Wir wissen, wie diese Geschichte ausgegangen ist. Aber egal, wie sehr die Leute sich die Schuld an der Ansteckung selbst zuschreiben können, ich wünsche wirklich jedem und jeder Infizierten gute Besserung. Man kann mit den Augen rollen über solche Dummheiten, aber die Infektion mit einem potentiell tödlichen Virus ist alles andere als die angemessene Strafe dafür. Zumal, ich kann es gar nicht oft genug betonen, wir alle manchmal Dummheiten machen. Wie oft standen Sie schon auf einer Rolltreppe und haben gedacht: „Hm, Lakritz, da lutsch ich jetzt mal dran“? Na gut, okay, schlechtes Beispiel. Aber Sie wissen, was ich meine.
Auch andere Staatschefs haben erstaunliche Reaktionen an den Tag gelegt. So hat etwa Jair Bolsonaro, immerhin der Präsident Brasiliens, in einer Pressekonferenz gesagt, dass er glaube, Brasilianer*innen könnten das Virus leicht überstehen. Man könne, so Bolsonaro weiter, Brasilianer sogar in Exkrementen baden, selbst das würden Sie schadfrei überstehen. Ich finde ja, der Vergleich stinkt zum Himmel. Mal ganz abgesehen davon, dass ich mir die Frage stelle, wie Bolsonaro überhaupt auf diesen Gedanken gekommen ist – und woher er das weiß? Viele Fragen warf auch einer seiner Minister auf, der tatsächlich nahelegte, das neue Corona-Virus sei Teil eines Plans der chinesischen Regierung, um die Kontrolle über die Welt zu erlangen. Also, ganz ehrlich, da zünde ich lieber einen Mobilfunkturm an.
Aber Bolsonaro ist mit seiner Haltung nicht allein, ganz im Gegenteil. Autokraten aller Länder vereinen ihre Stimmen zu einem testosteronverwirrten Chor, der brüllt: „Wir sind alle richtig tough hier, das Virus hat keine Chance gegen unser Volk.“
Weniger aggressiv geht das eine Münchner EU-Kandidatin für die Grünen an, Birgit Raab, die auf twitter schrieb, Corona müsse man anders sehen, nämlich „nicht als Feind, sondern als Bote“. Die Sorte Bote halt, die beim Überbringen der Botschaft Hundertausende Menschenleben fordert. Na, logisch.
Einen besonders starken Glauben hat wohl auch Yavook Litzmann, der israelische
Gesundheitsminister. Er verkündete in einer Ansprache Ende März, dass er glaube, der Messias werde noch vor dem Pessach-Fest, einem hohen jüdischen Feiertag, erscheinen und uns alle vom Corona-Virus befreien. Ich habe ernsthafte Zweifel, dass dieser Plan funktionieren wird, denn das Pessach-Fest war bereits am 8. April.
Dem prominenten iranischen Kleriker Alireza Panahian würde es sicher nicht gefallen, wenn ich eine Parallele zwischen ihm und Yavook Litzmann ziehe, aber sie drängt sich einfach auf. Panahian forderte Mitte März dazu auf, das Virus so weit wie möglich im Iran zu verbreiten, um das Erscheinen des Madhi zu erzwingen. Der Madhi ist eine Art Messias-Figur im schiitischen Islam. Dieser Ansatz wirkte auf mich ein bisschen, als hätte Noah keine Arche gebaut, sondern alle Dämme gesprengt, Wasserhähne aufgedreht und Hydranten umgetreten, um die Sintflut schneller herbeizuführen.
Natürlich haben auch christliche Prediger eigene Ideen zum Corona-Virus. Über Pat Robertson, einen sehr prominenten amerikanischen TV-Prediger, war zu lesen, dass der Corona-Virus durch Oralverkehr mit Frauen verursacht würde. Diese Geschichte ging durch viele Medien, bis sich herausstellte, dass es sich um eine Satire gehandelt hatte. Es ist halt die Sorte Satire, die sehr glaubwürdig daherkommt, denn Robertson ist unter anderem deswegen bekannt, weil er vor einigen Jahren verkündete, schuld an den Anschlägen des 11. September 2001 seien »Hexen und Lesben«. Da wäre es jetzt nicht allzu erstaunlich gewesen, wenn er den nächsten Ausbruch von frauenfeindlichem Wahn gehabt hätte.
Ein anderer Fernsehprediger jedoch sorgte tatsächlich für Aufsehen, indem er eine Predigt vor einer seiner Megachurches hielt, die diesmal jedoch völlig leer war. Die Rede ist von Kenneth Copeland, der es ins Kapitel »Aber: Glaube« geschafft hatte, weil er einst sagte, er müsse als Prediger von Demut trotzdem drei Privatflugzeuge besitzen, denn kommerzielle Flugzeuge seien Röhren voller Dämonen. Nun ist Copeland wiederaufgetaucht, vor leeren Rängen, aber mit einigen Mitbetenden auf der Bühne. Sie alle versuchten gemeinsam, den Virus symbolisch wegzupusten. Mehrmals und druckvoll pusteten sie in den Raum hinein, man sah den Speichel regelrecht fliegen. Das wird gegen die Verbreitung des Corona-Virus wenig geholfen haben, fürchte ich. Aber ich bin vielleicht auch einfach nur ein Ungläubiger.
Unglaublich fand ich auch, was um Ostern herum aus Sylt berichtet wurde. Trotz des
Lockdowns wollten es sich offensichtlich viele Tourist*innen nicht nehmen lassen, nach Sylt zu reisen. Wie Bürgermeister N. Häcksel einer Zeitung berichtete, setzen sie dabei eine Bruttoregistertonne krimineller Energie frei: Manche verkleideten sich und ihre Familie als Handwerker. Man kann es sich vorstellen, wie das bei der Kontrolle ablief:
»Was machen Sie hier auf der Fähre nach Sylt?«
»Wir sind Malermeister Kaluppke und Sohn aus Bottrop. Wir sind gekommen, um zu streichen.
Äh … den Hafen. Wir streichen den Hafen!«
»Sie kommen extra aus Bottrop, um hier den Hafen zu streichen?«
»Na klar, wir sind Spezialisten! Quasi jeder Hafen in Bottrop ist von uns!«
»Auf ihrer Rücksitzbank schläft ein Zweijähriger in einem Blaumann, mit einem Pinsel als Schnulli.«
»Ja, wie gesagt: Kaluppke und Sohn. Das ist der Sohn.«
Wieder andere setzen illegal nach Sylt über, in eigenen Booten, als Festlandflüchtlinge auf dem Weg in die erhoffte Luxusenklave. Viel zynischer geht es wohl nicht mehr.
Dümmer hingegen geht immer. Donald Trump hat sich natürlich auch geäußert. Nachdem er monatelang die Gefahr verharmloste – auch noch, als das Virus die USA bereits erreicht hatte und anhand der Situation in vielen anderen Ländern sehr gut abzusehen war, welche Gefahr da auf das Land zukam. Mit seiner Allzweckwaffe twitter gab er noch am 26. Februar das Statement ab, dass es bis jetzt erst 15 Fälle von Covid19 in den USA gäbe und in wenigen Tagen gar keine Fälle mehr. Mittlerweile – bei aktuell weit mehr als einer halben Million Fällen in den USA – ist er etwas zurückhaltender, manchmal sogar regelrecht demütig. Wobei die Grenze zwischen demütig und dämlich schmal sein kann. Bei einer Pressekonferenz an Ostern sagte er, dass das Virus sich nicht nur gut verstecke, sondern auch sehr schlau sei. Ein regelrechtes Genie. Viel zu clever für Antibiotika.
Das ist durchaus bemerkenswert, denn als »Genie« bezeichnet Donald Trump üblicherweise nur … nun … sich selbst. Zudem könnte man inzwischen auch als US-Präsident wissen, dass Viren generell nicht mit Antibiotika bekämpft werden können. Denn damit kann man nur Bakterien bekämpfen. Aber gut, andererseits dachte man lange, man könnte ein Land nur mit Kompetenz regieren. Es ist eine ungewöhnliche und ungewohnte Zeit, in der wir alle etwas Neues dazulernen.
Unter den vielen konstruktiven und kreativen Vorschlägen, mit der Krise umzugehen, mochte ich besonders eine junge Dame, die sich selbst einen Mundschutz genäht hatte. Auf dem Stoff waren sehr viele, sehr kleine Penisse abgedruckt. Immer wenn sie jemand darauf ansprach, sagte sie: »Wenn sie das sehen können, sind sie zu nah an mir dran.« Manche Leute können nicht so gut nähen, das Internet ist inzwischen voll von anderen Lösungen für selbstgebastelte Masken. Die Leute nutzen Plastiktüten, Salatblätter, aufgeschnittenes Obst, Partyhüte, Binden, Windeln und Schuhe. Das mit den Windeln fand ich persönlich am erstaunlichsten – es scheint die kontaktlose Variante zu sein von »Leck mich am Arsch«.
Wo wir gerade davon sprechen, mitten in der Corona-Krise tauchte auf einmal Thorsten Kemmerich wieder auf, seines Zeichens der kürzeste Ministerpräsident Thüringens. Sie wissen schon, der Mann, der sich von der AfD ins Amt wählen ließ, dann Björn Höcke die Hand schüttelte und sich dann wunderte, dass ihn ganz Deutschland daran störte. Nach einem Tag im Amt war er weg vom Fenster und es wurde angenehm still um ihn. Bis Mitte April 2020. Da hatte der Chef der Grünen, Robert Habeck, gerade vorgeschlagen, dass man doch »Corona-Räte« gründen könnte, in denen sich Bürger unter Wahrung sozialer Distanz ganz unverbindlich
ihre Gedanken austauschen und Ideen für die Zeit nach der Krise sammeln könnten. Kemmerich war sofort außer sich! Er twitterte umgehend: »#Habeck fordert eine #Räterepublik Das steht unserem nach Krieg und sozialistischen Diktatur gewonnenen Einsicht in #ChecksAndBalances entgegen. Das KANN nicht die Position von #Bündnis90 sein!«
Ja, wo soll man da anfangen? Vielleicht bei der Definition einer »Räterepublik«, die Kemmerich offenbar nicht mal im Ansatz kennt? Oder dabei, dass er bei so viel Sorge um die Demokratie und Angst vor einer Diktatur vielleicht als Erstes mal selbst aufhören sollte, Faschisten die Hand zu schütteln? Aber vielleicht sollte ich mich auch einfach geschmeichelt fühlen und dieser Tweet war der Versuch, auf den letzten Metern noch in mein Kapitel über Dummheit in Zeiten der Corona zu kommen.
Aus meiner Sicht war klar, dass dies hier nicht nur ein Essay werden würde, sondern eben ein Bonuskapitel zum Buch, denn es gab allzu viele Querverbindungen zu Cogito, ergo dumm. Nehmen Sie nur den Fall von Ignaz Semmelweiß aus dem Kapitel »Unheilbar dumm«. Semmelweiß war ein Arzt, der vor 150 Jahren beobachtet hatte, dass es in dem Teil des Krankenhauses, in dem sich die Ärzte zwischen den Behandlungen die Hände wuschen, zu weniger Komplikationen bei Operationen gekommen war. Er vermutete einen direkten Zusammenhang und äußerte lautstark, dass es eine gute Idee sein könnte, wenn alle Ärzte sich regelmäßig die Hände waschen würden. Daraufhin lockte man ihn unter einem Vorwand in ein Irrenhaus und sperrte ihn bis zu seinem Tod dort ein. Nicht im »finsteren« Mittelalter, sondern Mitte des 19. Jahrhunderts, wohlgemerkt.
Heute sind wir zum Glück klüger, spätestens seit Corona ist uns allen klar, wie wichtig das Waschen der Hände ist. Inzwischen hat jede*r gelernt, dass man das gründlich machen sollte – und vor allem auch lang genug. Um die Mindestdauer von 20 Sekunden einzuhalten, ist die verbreitetste Methode, einfach zweimal »Happy Birthday« zu singen. Das machen wir seit Mitte März alle so oft, dass ich mir am 23. März aus Versehen Hunderte Male die Hände wusch, einfach aus Reflex. Dabei hatte ich einfach nur Geburtstag.
Oder nehmen Sie den Fall von Chastity H., der im Kapitel »Kriminell blöd« geschildert wird. Die Dame hatte auf eine Facebook-Anzeige ihrer lokalen Polizeistation in den USA reagiert, in der stand, dass sich alle Meth-User bitte melden sollten, weil Crystal Meth mit Ebola aufgetaucht sei. Nun könnte man etwas schadenfroh schmunzeln, dass die Dame auf diesen recht durchschaubaren Trick reingefallen ist. Aber aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass man aktuell vermutlich mit einem vergleichbaren, etwas angepassten Aufruf Tausende Krimineller aus dem Verkehr ziehen könnte.
Die wichtigste Erkenntnis aus Cogito, ergo dumm für die gegenwärtige Situation findet sich im Kapitel »Dumm im Internet«, in dem es im Abschnitt über Schwarmintelligenz und Schwarmdummheit auch um die Frage geht, ob der Mensch nach Aristoteles` Worten ein »zoon politikon« sei, ein Wesen, das nur in Gemeinschaft existieren könne. Ich zitiere darin den Neurologen Ernst Pöppel, der betont, dass wir auf Sozialkontakte angewiesen sind – unser Gehirn zwingt uns quasi dazu, auch wenn ein anderes Verhalten manchmal besser wäre.
Und weiter heißt es: „Ein Beispiel dafür sind kaputte Beziehungen, von denen man sich aber nicht trennen kann, weil sie für das eigene Funktionieren und das Selbstbild notwendig scheinen. Einsamkeit ist eben auch keine gute Alternative. In einer von Juliane Holt-Lunstad geleiteten Meta-Studie über die Gefahren der Einsamkeit und der Sozialen Isolation wurden 2015 die Ergebnisse von 148 Studien zu diesem Thema untersucht. Ihr Team kam zu dem Schluss, dass Einsamkeit ähnlich gesundheitsschädigende Folgen haben kann wie Rauchen oder starkes Übergewicht. Oder, um es kurz und hart zu sagen: Man kann an den Folgen von Einsamkeit und sozialer Isolation sterben. Zum Glück haben wir nicht nur die Wahl zwischen Einsamkeit und schrecklichen Beziehungen. Mein Vorschlag: Suchen Sie sich doch einfach gute Leute als Freundinnen und Freunde aus. Wechseln Sie bei Bedarf. Und wenn Ihnen Ihre Familie nicht mehr gefällt, suchen Sie sich einfach eine neue. Gehen Sie in der Fußgängerzone wahllos auf Passanten zu und sagen Sie den magischen Satz: »Du bist jetzt meine Mama.«
Soweit, so einleuchtend. Allerdings können wir im Moment nicht mal mehr das machen, die Fußgängerzonen sind leer von potentiellen Mamas. Umso wichtiger ist es, dass wir in der Zeit des Lockdowns und des Social Distancings nicht vergessen, dass wir soziale Wesen sind. Das bedeutet nicht nur, dass wir um unserer Selbst willen auf regelmäßigen Austausch mit anderen achten sollten. Wichtig ist auch, aufeinander Rücksicht zu nehmen und sich in angemessener Weise um jene zu kümmern, die gerade besonders einsam sind oder vielleicht in schwierigen Beziehungen stecken, aus denen der Weg heraus unter diesen Umständen noch mal schwerer ist als ohnehin schon.
Vielleicht müssen wir uns die Parabel der Stachelschweine von Artur Schopenhauer ins Gedächtnis rufen. Darin frieren die Stachelschweine und könnten sich theoretisch gegenseitig wärmen. Wenn sie sich jedoch zu nah kommen, dann fügen sie sich mit ihren Stacheln gegenseitig Schmerzen zu. Eine missliche Lage, die wir heute sehr gut nachfühlen können. Jedoch darf man nicht vergessen, dass die Stachelschweine damals noch gar kein Skype, kein Zoom und keine sozialen Medien kannten. Nicht mal das Telefon war damals erfunden – oder das Händewaschen bei Ärzten. Denn Schopenhauer schrieb die Parabel vor 170 Jahren. Wir haben heute ein paar mehr Möglichkeiten – und wir sollten sie auch nutzen. Unser Leitgedanke sei: Man kann einander nah sein, ohne sich nah zu sein – oder sich gegenseitig am Förderband zu lecken. Na, logisch.
Es sei nochmal betont, ich will hier nichts verharmlosen. Es ist eine große Scheiße, in der wir stecken. Lasst uns nicht vergessen, dass wir alle gemeinsam darin stecken und diese Zeit nur
zusammen durchstehen können. Alles andere wäre wirklich dumm.
Sebastian 23, Bochum, den 12. April 2020
Einige Quellen dazu:
Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie«, Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 8522, Stuttgart 2010.
Schopenhauer, Arthur, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften“, Teil 2, Stuttgart 1965.
Sebastian 23, Cogito, ergo dumm. Eine Geschichte der Dummheit, Salzburg/München 2020.
Und aus dem schlauen Internet:
https://www.theverge.com/2020/4/4/21207927/5g-towers-burning-uk-coronavi...
https://www.theguardian.com/world/2020/apr/07/china-outraged-after-brazi...?
https://twitter.com/birgit_raab/status/1246020616324603904?s=20
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/coronakrise-wie-touristen-t...
https://sz.de/1.4873470
https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-pandemie-populismus-toetet...
https://twitter.com/pattonoswalt/status/1248760972065431552?s=09
https://twitter.com/stevesilberman/status/1248721542554378240?s=19
https://nypost.com/2020/03/25/influencer-reportedly-hospitalized-with-co...
https://www.mena-watch.com/iran-mit-corona-fuer-den-messias/
https://twitter.com/klausurrelefant/status/1248718602842365954?s=19
Artikelfoto: Sebastian 23 @ Rein in Flammen, 30. August 2011 by © Fabian Stürtz